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Eine Flachbahn durch die Alpen

Mit 57 Kilometern Länge hat die Schweiz den längsten Tunnel der Welt gebaut.

Er führt von Erstfeld nach Bodio und unterquert den Gotthard. Ein Reportage vom Bau

Gotthardtunnel während der Bauphase. Arbeiter schwenken Schweizer Flagge

Magischer Moment: Der Durchstich beim Bau des neuen Gotthardtunnels in der Schweiz

 

Von Fred Hafner

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Erstfeld. Rußverschmierte Gesichter, zentimeterdicker Staub, ohrenbetäubende Explosionen, diffuses Grubenlampenlicht – die Ansichten über Untertage-Baustellen sind zäh. Beim Bau des mit 58 Kilometern längsten Bahntunnels der Welt unter dem Schweizer Gotthardmassiv ist vieles anders: High-Tech-Maschinen und bläuliches Neonlicht sorgen für eine fast klinische Atmosphäre.

 

Die Grubenbahn fährt pünktlich. Mit ihren offenen Loren befördert sie mehrmals pro Stunde Ausrüstungsmaterial in den Tunnelschlund und Gesteinsmassen wieder hinaus. Auch die Mineure fahren mit der meterspurigen Güterbahn zu ihren Arbeitsplätzen. Heute darf ein DB-Welt-Reporter dabei sein – im Rucksack den sogenannten Lebensretter, ein Sauerstoffaufbereitungsgerät, dass im Notfall die Atmung für 45 Minuten ermöglicht. Zuvor musste ich allerdings gefühlt 15 Seiten Papier lesen und abzeichnen, dass ich absolut gesund und fit für die Einfahrt in den Berg bin. Dann geht es endlich los.

 

13 Kilometer fahren wir mit der Wagenschlange in den Berg ein, mehr als eine halbe Stunde. Dann sehen wir sie – die Tunnelbohrmaschine (TBM). Zumindest deren Ende, denn bei 441 Metern Länge ist in der engen Röhre kein Anfang zu erkennen. Wir laufen rund sieben Minuten an die Bauspitze. Hier dirigiert Ingenieur Wolfgang Türli mit einem Joystick den 3.000 Tonnen Koloss der Firma Herrenknecht aus dem Schwarzwald. Er besitzt zehn Motoren und besteht aus 90.000 Einzelteilen. „Zunächst stützt sich Emma, wie wir sie liebevoll nennen, mit 2.000 Tonnen Druck an der Tunnelwand ab. Damit erzeugen wir eine Kraft von 28 Tonnen auf das Schneidrad“, erklärt Türli. Während sich die insgesamt 18 Diamantbohrer in den Berg verbeißen, dreht sich das Schneidrad ein bis sechs Mal in der Minute. So geht es ohne Pause: Druck aufbauen, Vortrieb in den Berg, Gestein und Erdreich abtransportieren – wieder Druck aufbauen. 

Gotthard-Basistunnel während der Bauphase
Gotthard-Basistunnel während der Bauphase  mit Radlader
Gotthard-Basistunnel während der Bauphase mit Arbeitern beim Gleisverlegen

Während vorn noch die letzten Meter ausgebrochen werden (Fotos oben), ist weiter hinter der Tunnelausbau längst im Gang (Foto links) 

Nur noch 1.712 Meter sind auszubrechen. Die zwei eingleisigen Tunnelröhren mit 114 Kilometer Länge sind zu 98,5 Prozent im Rohbau fertig. Einschließlich Logistik-, Übergangs- und Zugangsstollen haben die Mineure in drei Jahren insgesamt 152 Kilometer Tunnel gegraben. Im November soll der sogenannte Hauptdurchschlag stattfinden. Bisher trafen sich die beiden Tunnelbohrmaschinen, die von verschiedenen Abschnitten aus bohrten, jeweils mit weniger als einen Zentimeter Abweichung vertikal und horizontal.

Zwischen 90 Zentimetern und 18 Metern fressen sie sich täglich in den Berg, je nach Art des Gesteins. Wenn die Diamantbohrer nicht mehr weiter kommen, insbesondere bei Granitgestein, wird mit Dynamit gesprengt. „Noch vor zwölf Jahren sagten namhafte Geologen, der Berg sei auf dieser Länge unbezwingbar“, schmunzelt Hochbau-Polier Alois Bissig (51). Heute haben die Bauleute andere Sorgen. Wohin mit dem gesamten Abraum? „In einen Güterzug verladen, würde dieser über 6.500 Kilometer von Zürich bis New York reichen“, verdeutlicht Bissig die Dimensionen. Also werden mit den riesigen Mengen an Erdreich große Senken verfüllt, entstehen künstliche Inseln in großen Seen, werden neue Straßen gebaut. 

Die Heilige Barbara ist die Schutzpatronin der Bergleute

Die "Heilige Barbara" wird verehrt. Sie ist die  Schutzpatronin der Bergleute und wacht über ihre Unversehrheit

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Im Tunnel herrscht derweil weiter Zeitdruck. An vielen Abschnitten beginnt bereits der Innenausbau. Über 3.200 Kilometer Kabel sind schon verlegt. Jetzt folgen Schienen und Sicherheitseinrichtungen, damit der längste Tunnel der Welt pünktlich 2017 in Betrieb gehen kann. Daran zweifelt in der Schweiz niemand. Und dafür rackern die Bauarbeiter aus 15 Ländern täglich 24 Stunden. Sie kommen aus 15 Nationen, es sind hauptsächlich Österreicher, Italiener, Portugiesen, Spanier. Sie arbeiten 14 Tage am Stück, durch nur einen freien Tag unterbrochen. Danach haben sie sechs Tage frei und der Zyklus beginnt von vorn. Jahreszeiten oder Feiertage spielen hier keine Rolle, im Tunnel sind die Bedingungen immer gleich. „Wir kühlen die Arbeitsplätze im Berg von 46 auf 28 Grad herunter, um sie erträglich zu halten“, erklärt Bauleiter Walter Sury. Fünf Meter dicke Frisch- und Abluftrohre tauschen sekündlich 120 Kubikmeter Luft aus. Komfortabel geht es in der knapp bemessenen Freizeit zu: „Jeder Arbeiter hat ein Einzelzimmer mit TV und Dusche. Beim ersten Tunnelbau am Gotthard vor 100 Jahren teilten sich noch drei Arbeiter einen Strohsack“, vergleicht Sury die Bedingungen. „Damals wurde in Schichten geschlafen, der Strohsack wurde nie kalt.“

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Wolfgang Türli hat die Tunnelbohrmaschine wieder angesetzt. Außer ihm arbeiten gleichzeitig bis zu 2.700 Menschen unter Tage, an den unterschiedlichsten Punkten: Erstfeld, Amsteg, Faido, Altdorf, Rynächt, Bodio. Eine Schiefertafel verkündet: Unsere Baustelle ist seit zwölf Tagen unfallfrei. Bisher gab es sieben Todesfälle beim Bau.

Jeder ist einer zuviel, jeder belegt: Tunnelbau ist auch im 21. Jahrhundert nicht ungefährlich. Deshalb wird Sicherheit groß geschrieben. Die Arbeiter werden für Notsituationen und im Brandschutz geschult. „Feuer ist der Horror im Tunnel“, sagt Bauleiter Sury. Die Grubenbahn bringt uns wieder ans Tageslicht. Die Sonne blendet. Aber sie beruhigt ungemein. (Juni 2010)

Eröffnungsfeier des Gotthard-Basistunnels
Der erste Zug fährt durch den Gotthard-Basistunnel

Geschafft: Mit einem großen Fest und zahlreichen internationalen Gästen nimmt die Schweiz am 1. Juni 2016 den neuen Gotthard-Basistunnel in Betrieb

Fakten:

2.700 Menschen arbeiteten in Spitzenzeiten gleichzeitig am Tunnel. Sie holten mehr als 28 Millionen Tonnen Schutt und Gestein heraus.

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153 Kilometer Tunnel insgesamt, einschließlich Logistik-, Rettungs- und Zugangsstollen, trieben die Mineure in den Berg.

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17 Jahre lang wurde der Tunnel in den Fels gehauen, dann ausgerüstet. Auf ihm lasten bis zu 2.300 Meter Gestein.

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Zwei Röhren mit je 57 Kilometer Länge führen von Erstfeld in der Zentralschweiz nach Bodio im Tessin. Die Züge sparen sich damit 500 Meter Höhenaufstieg nach Göschenen, wo der bisherige Gotthard-Tunnel verläuft, der in Airolo mündet.

 

Dank der neuen „Flachbahn“ unter den Alpen verkürzt sich die Fahrzeit zwischen dem Schweizer Norden und dem Süden um eine Stunde. Von Basel nach Lugano geht es 50, von Zürich nach Mailand 60 Minuten schneller.

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Der Preis: 12,5 Milliarden Franken (11,4 Mrd. Euro) investierten die Schweizer.

17 Jahre dauerte der Bau.

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